Simone Glöckler: 111 Gründe, Argentinien zu lieben

Argentinien ist lebendig und pulsierend, Argentinien belebt! Die Landschaften, Menschen, Kultur und die Geschichte des Landes sind fesselnd.
— Simone Glöckler

Argentinien ist ein Angriff auf alle Sinne. Es ist ein Land der Extreme – in jeder Hinsicht. Ob landschaftlich, kulturell oder kulinarisch: Die Heimat der Gauchos lässt keinen kalt. Auch Simone Glöckler ist dem Charme Argentiniens erlegen. In ihrem Buch hat sie 111 Gründe gefunden, das zweitgrößte Land Lateinamerikas zu lieben.

Simone Glöckler: „111 Gründe, Argentinien zu lieben“*

Interview mit Simone Glöckler

Du lebst seit Jahren in Argentinien. Was hat deine Liebe zu diesem Land ausgelöst? Welche Erinnerungen hast du an deine ersten Tage in Argentinien?

Simone Glöckler: Das erste Mal argentinischen Boden betreten habe ich mit 19 Jahren in Los Antiguos, Provinz Santa Cruz. Damals war ich für sieben Monate mit dem Rucksack in Südamerika unterwegs. Ich war hin und weg von der unberührten Landschaft, den tiefblauen Seen, den wilden Bergen und der unglaublichen Gastfreundschaft der Argentinier. Kein anderes Land auf der Reise hat mich so berührt wie Argentinien.

Von Los Antiguos bin ich nach El Chaltén gefahren, das damals noch nicht so überlaufen war wie heute. Ich wusste nicht genau, was mich erwartet und bin einfach losgewandert zur Laguna de los Tres, einem der Aussichtspunkte des Fitz Roy. Es hat den ganzen Tag nur geregnet und die grauen Wolken hingen so tief, dass ich nichts von den Bergen um mich herum gesehen habe. Bis ich oben ankam und es mir auf einem Fels gemütlich machte. Außer mir und meiner Begleitung war niemand dort oben. Von einer Minute auf die nächste riss der Wolkenvorhang auf und die scharfe Spitze des Fitz Roy zeigte sich in ihrer ganzen Pracht. Ich war sprachlos, hatte Gänsehaut am ganzen Körper und konnte nicht glauben, dass es solch einen schönen Ort auf dieser Welt gibt. Von diesem Moment ging eine gewisse „Magie“ aus – auch wenn das kitschig klingt –, die ich seither viele Male in Argentinien, vor allem in Patagonien, erleben durfte.

Auch Buenos Aires gefiel mir damals schon sehr gut. Ich verabschiedete mich von der Stadt mit dem Gedanken, noch einmal für längere Zeit wiederzukommen. Sechs Jahre später studierte ich dort für ein Semester, es folgte ein Forschungsaufenthalt für meine Masterarbeit und seit 2014 lebe ich hier.

Privat und beruflich reise ich sehr viel in Argentinien, sodass ich viele neue Herzensorte kennenlernen durfte – und zurück zur „ersten großen Liebe“, nach El Chaltén, geht es auch immer wieder. Fitz Roy und Cerro Torre gehören für mich nach wie vor zu den schönsten Bergen der Welt und haben nichts von ihrer Magie eingebüßt.

Wie sieht dein Leben in Argentinien aus? Warum bist du dort sesshaft geworden?

Ich beginne mit der zweiten Frage: Während des Auslandssemesters lernte ich einen sehr besonderen Argentinier, meinen Freund, kennen und da war für mich schnell klar, dass ich Deutschland erst einmal den Rücken zukehren werde. Der Klassiker!

Der Anfang war ziemlich schwer. Das Leben in Buenos Aires ist chaotisch und geprägt von ständigen Aufs und Abs. Nach ein paar Monaten hatte ich einen interessanten Job in einer Spanisch Sprachschule und habe dort Freunde gefunden. Das war der erste wichtige Schritt. Leicht war es trotzdem nicht. Zwei Wochen Urlaub im Jahr, das Leben mit der Inflation, die ständige Frage, wie viel mein Gehalt morgen noch wert ist. Also suchte ich nach Alternativen.

Mittlerweile habe ich einen Weg gefunden, der mich glücklich macht: Ich arbeite freiberuflich als Reiseleiterin, Texterin und DAF-Lehrerin. Dadurch kann ich arbeiten, wann und wo ich will. Ich kann jederzeit meine Patagonien-Sehnsucht stillen. Den argentinischen Winter verbringe ich meist in Deutschland. Es wird nie langweilig und ich habe viele Pläne für die Zukunft. Nach der Reise ist immer vor der Reise!

Wie würdest du das Wesen der Argentinier beschreiben? Was macht das argentinische Lebensgefühl aus?

Argentinien ist riesig groß und unglaublich vielfältig. So natürlich auch die Menschen. Eine Verallgemeinerung ist schwer, denn die Menschen in Jujuy im Nordwesten haben eine ganz andere Realität als die porteños (Bewohner von Buenos Aires) oder die Menschen in einem gottverlassenen Dorf in Patagonien.

Vielleicht ist der Humor etwas, das die Argentinier verbindet. Egal, wohin ich auch reise in Argentinien, treffe ich immer wieder auf Menschen mit einem sehr eigensinnigen, ironisch-bissigen Humor, mit Kommentaren weit unter der Gürtellinie. Und in jedem Satz ist noch Platz für 4-5 Schimpfwörter.

Typisch argentinisch ist auch ein Hang zur Melancholie. Der „Früher war alles besser“-Wermutstropfen gehört genauso zu den Menschen wie ihr Temperament und die ständige Suche nach ihren Wurzeln.

Gastfreundschaft wird in ganz Argentinien großgeschrieben. Ein Argentinier gibt ohne mit der Wimper zu zucken sein gesamtes Gehalt für ein hervorragendes asado (Grillfest) aus, wenn er seine Gäste dafür glücklich machen kann. Das ist auch Teil des argentinischen Lebensgefühls: Leben im Hier und Jetzt. Mañana ist eben nicht heute und mañana ist auch immer ein guter Tag, um Probleme zu lösen.

Warum ist Argentinien trotz Dauerkrise ein lebenswertes Land?

Von der Einstellung der Argentinier und ihrem Umgang mit den Krisen kann man viel lernen. Argentinien ist ein Land, in dem alles möglich scheint, wo es viel zu bewegen gibt, jeder einzelne seinen Beitrag leisten kann und wo auf faszinierende Weise lautstark gegen soziale Ungerechtigkeiten gekämpft wird. Auch wenn ich selbst regelmäßig für ein paar Monate nach Deutschland reise, um mich von eben jenen aufwühlenden Dauerkrisen zu erholen: Argentinien ist lebendig und pulsierend, Argentinien belebt! Die Landschaften, Menschen, Kultur und die Geschichte des Landes sind fesselnd.

Du hast in deiner Liebeserklärung 111 Gründe gefunden. Welche drei sind die wichtigsten?

Puh, diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Natürlich sind nicht alle Kapitel gleich wichtig, aber das ist ja auch abhängig davon, was der einzelne Leser sucht. Ich versuche mich mal an drei verschiedenen Herangehensweisen:

1.) Die Geschichte eines Landes ist immer wichtig, um die Menschen und ihre Denkweise zu verstehen. Wer längere Zeit in Argentinien ist und sich viel mit Argentiniern unterhält, kommt um das Thema Peronismus nicht herum. Ein Mann, eine Ideologie, eine Bewegung, eine Idee, eine schwammige Projektionsfläche. Der Peronismus prägt Argentinien bis heute, Peronisten und Anti-Peronisten beschäftigt das Thema gleichermaßen. Und trotzdem ist es schwer zu verstehen, eine eindeutige Erklärung scheint es nicht zu geben. Daher ist es ganz gut, wenn man sich schon ein bisschen mit der Thematik beschäftigt (16. Grund „Weil Argentinien alles, was es ist und was es nicht ist, wegen und dank Perón ist).

2.) So vielseitig Argentinien auch ist, eines ist für alle klar: Argentinien, das ist Buenos Aires und das restliche Land. Die Menschen aus den anderen Provinzen wollen nicht mit den Hauptstädtern gleichgesetzt werden und umgekehrt (63. Grund „Weil Gott ein Büro in Buenos Aires hat“).

3.) Ein sehr persönlicher Grund, der für mich wichtig ist, für andere vielleicht weniger: „Weil der Cerro Torre der Berg aller Berge ist“ (108. Grund). Ganz einfach, weil ich mit El Chaltén sehr intensive Momente verbinde, weil dort meine Liebe zu Argentinien begann, weil ständig neue Erlebnisse dazu kommen, und nicht zuletzt weil die Geschichte des Ortes und die der Besteigung der umliegenden Berge absolut faszinierend ist.

Welche Kuriositäten hast du erlebt?

Kuriositäten lauern hier hinter jeder Straßenecke. Das beginnt schon damit, dass ein Argentinier beim asado locker ein ganzes Kilogramm Fleisch verdrücken kann ohne dabei den Salat auf dem Teller auch nur anzuschauen. Kurios sind auch der weit verbreitete Aberglaube und die Verehrung skurriler Volksheiliger, die im ganzen Land präsent sind. Zum Thema Kuriositäten gibt es in meinem Buch einige Kapitel.

Ein kleiner Knigge für Menschen, die das erste Mal nach Argentinien reisen: Welche Fettnäpfchen sollte man vermeiden?

Außer in sehr touristischen Orten sollte man niemals auf die Idee kommen, die Rechnung im Restaurant getrennt zu bestellen! Das bringt so ziemlich jeden argentinischen Kellner zur Weißglut.

Ein heikles Gesprächsthema ist Politik. Wer auf ein friedliches Beisammensein aus ist, sollte erst einmal zaghaft vorfühlen, auf welcher Seite sein Gegenüber steht.

Sag niemals zu einem fanatischen Fußballfan etwas gegen seinen Club! Sein Club ist sein Leben!

Grundsätzlich werden Argentinier auch nicht allzu gern von Ausländern belehrt. Zumindest am Anfang und unter Unbekannten sollte man sich Kommentare zur Wirtschaft, Armut, Mülltrennung usw. verkneifen. Lob über das wunderschöne, tolle Land und seine einzigartigen Bewohner hören die Argentinier hingegen immer gern!

So chaotisch Argentinien in manchen Dingen auch sein mag, gedrängelt wird nicht! Egal, ob an der Bushaltestelle, an der Kasse oder auf dem Amt, man reiht sich immer artig hinten in die Schlange ein. In den öffentlichen Verkehrsmitteln sollte man übrigens auch immer Frauen, Kindern und älteren Menschen einen Sitzplatz anbieten (in dieser Reihenfolge!).

Argentinier bedanken sich grundsätzlich sehr oft und für alles. Das Wort gracias gehört genauso in fast jeden Satz wie die Schimpfwörter. Mir haben schon häufig Argentinier empört gesagt, dass wir Europäer uns nicht bedanken würden. Also: immer brav gracias sagen!

Ganz wichtig: Die Inseln da unten im kalten Südatlantik heißen NICHT Falklands und gehören NICHT zu Großbritannien! Sie heißen Malvinas und gehören zu Argentinien!

Was sollte man sonst bei einer Reise nach Argentinien beachten?

Man sollte sich auf jeden Fall bewusst machen, dass Argentinien sehr groß ist und man nicht immer so schnell von A nach B kommt, wie man es sich vielleicht vorstellt. Wer wenig Zeit hat, sollte die Reiseroute daher zuvor gut planen. Außerdem ist Argentinien kein Billigreiseland. Grundsätzlich gilt: Je weiter südlich desto teurer!

Zumindest zurzeit ist es am besten, möglichst viel Bargeld (Euro oder USD) mitzunehmen und vor Ort zu tauschen. Kreditkarten werden nicht überall akzeptiert und am Bankautomaten kann man nur wenig Geld abheben und zahlt pro Abhebung eine Gebühr von ca. 8 Euro (unabhängig von der heimischen Bank / Kreditkarteninstitut).

Ansonsten: einfach losziehen und sich von der Schönheit des Landes und der Herzlichkeit der Menschen überraschen lassen!

In Argentinien geht es immer rasant auf und ab in Politik und Wirtschaft. Wie würdest du die aktuelle Lage / Stimmung beschreiben?

Die letzten vier Jahre waren sehr hart. Man konnte zusehen, wie immer mehr Menschen auf der Straße lebten. Das Land ist hoch verschuldet und stand wieder einmal vor dem Staatsbankrott. Im Dezember 2019 gab es einen Regierungswechsel und viele Argentinier haben die Hoffnung, dass es nun wieder bergauf geht. Es wird aber kein leichter Weg und die ersten 1-2 Jahre sind sicher erst einmal schwierig.

Das Problem ist, dass hier mit einem neuen Präsidenten alles steht und fällt. Hat sich das Land von einer Krise erholt, gibt es einen Regierungswechsel und eine neue Krise klopft bereits an die Tür. Aber: positiv denken! Die kommenden vier Jahre können nur besser werden!

Was sind deine Lieblingsorte und Sehenswürdigkeiten in Argentinien? Hast du einen Geheimtipp?

Neue Lieblingsorte kommen bei fast jeder Reise dazu. Die Liste ist mittlerweile sehr lang. Hier ein paar Geheimtipps, über die ich auch in meinem Buch bzw. auf meinem Blog "Argentinien 24/7" berichte:

Nationalpark Perito Moreno, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Gletscher im Nationalpark Los Glaciares! Es ist einer der am wenigsten besuchten Nationalparks in Argentinien, da die Anreise etwas beschwerlich ist. Aber die Anstrengung lohnt sich!

Camarones, ein kleines Fischerdorf an der Küste der Provinz Chubut. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, es gibt tolle Strände, beim Baden trifft man mit etwas Glück auf Pinguine, und wenn nicht, dann ist eine Pinguin-Kolonie ganz in der Nähe.

Die Gegend rund um Malargüe im Süden der Provinz Mendoza. Vulkane und wirklich unberührte Natur. Hinter jedem Berg wartet ein faszinierendes Tal darauf, erkundet zu werden. Und man ist nicht selten völlig allein unterwegs.

Wer Lost Places mag: Das Dorf Epecuén in der Provinz Buenos Aires. Durch Überflutungen war es Jahrzehnte lang unter Wasser verschwunden. Heute bieten die Ruinen eine ideale Fotokulisse zwischen verrosteten Küchenutensilien und Flamingos.

Über Simone Glöckler

Simone Glöckler stammt aus Ulm. Schon von kleinauf hat es sie aber immer hinaus in die weite Welt gezogen. 2006 reiste sie zum ersten Mal mehrere Monate mit dem Rucksack durch Südamerika. Seither hat sie die Leidenschaft für diesen bunten und facettenreichen Kontinent nie wieder losgelassen.

Nach einem Auslandssemester in Buenos Aires 2012 fasste sie den Entschluss, Deutschland vorerst den Rücken zu kehren. In der Metropole am Río de la Plata arbeitet sie als Texterin, Deutschlehrerin und Reiseleiterin. Mit "111 Gründe, Argentinien zu lieben" hat sie ihrer Wahlheimat eine Hommage gewidmet.

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